Beziehungen in politischen Bewegungen – ein Beitrag aus den USA

Mehr oder weniger zufällig sind wir vor ein paar Monaten über den folgenden Text gestolpert und haben uns entschlossen, ihn zu übersetzen. Wir erachten den Artikel für die deutschen Verhältnisse als bedeutsam und richtungsweisend, weil wir in der deutschen Linken eine vielartige Mischung aus Unwillen und Ignoranz wahrnehmen, sich eingehender und strukturell mit Fragen von Traumatisierung und den Folgen für politische Organisierung auseinanderzusetzen. Wir wünschen uns möglichst viele Diskussionen darüber, und würden Veranstaltungen zu diesem Thema begrüßen.

Der Artikel bezieht sich auf die US-amerikanischen Verhältnisse, unter denen Soziale Bewegungen arbeiten. Dazu gehört z.B. die im Text erwähnte, thematisch wesentlich breiter aufgestellte Struktur von Non-Profit-Organisationen, die sich aus Spenden finanzieren und bezahlte Mitarbeiter*innen beschäftigen, was einen wesentlichen Unterschied zur Struktur Sozialer Bewegungen hierzulande darstellt, die meist keine bezahlten Aktivist*innen haben. Desweiteren gibt es in den USA eine kritisch-reformerische Bewegung zum Justizsystem (‚Healing Justice‘/ ‚Transformative Justice‘), die in dieser Form in der BRD nicht existiert. (Anmerkungen der Übersetzer*innen)


Dieser Artikel ist der zweite der Truthout-Serie “Visions of 2018”, in welcher _Aktivist*innen die Frage beantworten „Was würdest du gerne sehen, was dieses Jahr neu entwickelt, aufgebaut, erträumt oder begonnen werden sollte?“ Jeder dieser Artikel wird auf eine wichtige Idee für den Wandel konzentriert sein, um uns im laufenden Jahr mit Energie zu versorgen.

Unsere Beziehungen halten uns am leben: Lasst sie uns 2018 in den Vordergrund stellen

Von Ejeris Dixon bei truthout.org am 08. Februar 2018

Quelle http://www.truth-out.org/opinion/item/43444-our-relationships-keep-us-alive-let-s-prioritize-them-in-2018

Dieser Text ist über einen längeren Zeitraum entstanden. Als jüngerer Mensch habe ich Jahre damit verbracht, Frauen in der Black Power-Bewegung zu interviewen und ihre Briefe, Texte und Gedichte zu lesen. Ich habe ihre Erfahrungen und den Einfluss von posttraumatischen Störungen untersucht. Später habe ich dann verstanden, dass ich nach einer Art und Weise gesucht habe, in politischen Bewegungen beteiligt zu sein, die es mir ermöglicht, meine Persönlichkeit, meine Haltung und Hoffnungen unbeschadet beizubehalten. Ich lernte, dass ein Teil dieser Arbeit bei mir alleine liegt. Aber der andere Teil sollte unser gemeinsames Bestreben sein: Es geht darum, wie wir uns gegenseitig behandeln.

Meine Vorstellung für das Jahr 2018 ist die, dass wir uns selber vornehmen, die Beziehungen innerhalb sozialer Bewegungen und die damit zusammenhängenden Schäden zu thematisieren. Ich verbrachte 2017 die meiste Zeit mit Reisen durch die USA und mit der Unterstützung von Gruppen, die sich gegen intensive politische Bedrohungen gebildet hatten. Manche waren direkt mit weißem Nationalismus konfrontiert, andere thematisierten Gewalt gegen LGBTQ-Communities, wieder andere unterstützten Communities, die unter der Bedrohung von Abschiebungen standen oder die mit Schwarzen Communities arbeiteten, welche mit staatlicher Gewalt konfrontiert waren. Vieles meiner Arbeit mit diesen Gruppen war Krisenmanagement, welches einen vertrauensvollen Umgang erforderte.

Während solcher repressiver Zeiten nehmen die Leute an, dass die meisten dieser Krisen im Aktivismus und der Organisierung von außen kommen. Stattdessen habe ich mit Gruppen gearbeitet, deren innere Beziehungen so belastet waren, dass ihre politische Arbeit praktisch zum Stillstand gekommen ist—Gruppen, wo die Leute aufgehört hatten, miteinander zu reden; wo die Leute untereinander missbräuchlich waren und sich gemobbt haben; wo sich Fragen von Gewalt und Diebstahl gestellt haben. In manchen Fällen haben Mitglieder aus dem gleichen Kollektiv andere Personen oder ihre eigenen Organisationen in den sozialen Medien kritisiert, aber haben sich geweigert, diese Kritik auch im direkten Umgang auszusprechen.

In einer Gruppe nach der anderen habe ich das selbe Muster wahrgenommen. In ereignisreichen Perioden werden Leute mobilisiert. Sie machen das, was wir alle gelernt haben und sparen sich ihre Kritik für einen späteren Zeitpunkt auf. Und wenn dann eine Pause in der äußeren Konfliktsituation entsteht, dann gehen alle aufeinander los. Als Aktivistin hatte ich gelernt, Leute für Bewegungen anzuwerben und sie darin zu unterstützen, auch dabei zu bleiben. Aber ich hatte nicht gelernt, wie man Beziehungen heilt oder Schäden daran vermeidet. Den meisten von uns fehlen diese Fähigkeiten.

Unsere Kampagnen, unsere Basisorganisierung und unsere politischen Analysen können und werden uns nicht vor dieser Bedrohung schützen. Schlimmer noch, unsere äußeren Gegner profitieren nicht alleine von unseren Spaltungen, sondern fördern sie noch. Manchmal sind wir unsere eigenen schlimmsten Feinde. Ohne unsere Aufmerksamkeit auf die Heilung unserer Beziehungen zu legen, werden unsere Bewegungen von innen heraus zerfallen.

Wie man Beziehungen in Bewegungen zerstört

Es gibt einige todsichere Arten, Beziehungen in Bewegungen zu zerstören. Gewöhnlich ist Misstrauen die Quelle von Konflikten und Misstrauen entsteht bereits dabei, wie wir in unsere Treffen, Aktionen und andere Bewegungsräume eintreten. Einige Gründe für Misstrauen, die ich beobachten konnte, sind Widersprüchlichkeit (Misalignment), Kultur der verbalen Auseinandersetzung (Call-out culture), Geheimstrategien (Secret maneuvering), Vernachlässigung von Beziehungen/Beziehungsarmut (relationship neglect).

Widersprüchlichkeit: Wenn Werte und Aktionen nicht übereinstimmen

Kurz gefasst, Heuchelei stösst die Leute ab. Allein im letzten Jahr haben so viele Leute den Glauben verloren und Organisationen verlassen, die behaupteten, unterdrückte Communities ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu stellen, dies aber faktisch nicht taten.

Die Leute fühlen sich betrogen, wenn eine Organisation oder Bewegung ihnen Befreiung verspricht und sie stattdessen Unterdrückung erfahren. Für viele Leute ist es eine herbe Enttäuschung im Sinne eines Vertrauensbruchs, die sie dazu bringt, der Bewegung den Rücken zu kehren. Wiederum andere bleiben zwar, aber behalten ein toxisches Maß an Zorn und Bitterkeit in sich.

Ein anderes Thema ist, wenn eine Organisation behauptet, eine kollektive oder horizontale Struktur zu haben, diese aber in Wirklichkeit nicht hat: Leute mit mehr Zeit und besserer Ausbildung – die einen höheren Klassenhintergrund haben – und die weiß, männlich, cis-gender, bürgerlich oder andere Privilegien haben, treffen in Wirklichkeit die Entscheidungen. Wenn der Prozess, unsere Werte und Aktionen in Übereinstimmung zu bringen, unklar oder unstet (in dauernder Veränderung) ist, kann das unsere Beziehung zu einander und unsere Arbeit zerstören.

Unsere Werte zu leben, während wir in einer Gesellschaft existieren, die das Gegenteil propagiert, bedeutet, das wir kämpfen und manchmal auf diesem Gebiet verlieren. Zum Beispiel haben viele Basisgruppen nicht das Budget, um ihre Arbeit mit der nötigen personellen Ausstattung zu betreiben. Um diese Lücke zu umgehen, haben diese Gruppen den Leuten niedrige Löhne bezahlt und sie haben oft Leute mit Klassen- oder Bildungsprivilegien beschäftigt. Diese Gruppen brauchten keine Festgehälter oder Festanstellung oder geregelte Arbeitszeiten bereit zu stellen, weil die Leute keine Kinderbetreuung, sozialversicherten Arbeitsverhältnisse oder Krankenversicherung benötigten. Aber wenn eine Organisation von sich behauptet, Niedriglöhner*innen zu vertreten oder sie ins Zentrum ihrer Aufmersamkeit zu stellen, dann muss sich diese Praxis ändern. Nur weil eine Organisation so gestartet ist, heißt das nicht, dass sie so fortbestehen kann.

Kontinuierliche Widersprüchlichkeit zwischen proklamierten Werten und Handlungen erzeugt Misstrauen, welches irreparable Konflikte hervorbringt. Um damit aufzuräumen, glaube ich, sollten wir von Anfang an die Konflikte, die unsere Gruppen haben, ausdrücklich benennen und sorgfältig daran arbeiten, sie zu beheben.

Hinterhältige Kritik und Anklagen (Disingenious Call-Outs)

Widersprüchlichkeit führt öfters zu einer bestimmten Form von Kritik. Damit meine ich eine Form von politischer Kritik , die dazu gedacht ist, öffentlich Organisationen, Bewegungen oder Personen zu benennen, die unterdrückerisch und manchmal auch schädlich gehandelt haben. Call-outs werden öfter als eine Form von Kritik von Menschen benutzt, die weniger Macht haben als die Organisationen oder Leute, die sie kritisieren—mit der Hoffnung, dass diese Art von Kritik dazu führt, dass der Inhalt der Kritik auch ankommt. Manche Call-outs sind nötig und wichtig und das Erzählen der Wahrheit ist nicht dazu gedacht, schön zu sein. Aber manche Call-outs sind hinterhältig und manipulativ. Ich habe in diversen Gruppen mitgearbeitet, um sie dabei zu unterstützen, Inhalte zu bearbeiten, die durch Call-outs thematisiert wurden. In manchen Fällen waren die Leute, die diese Kritik geäußert haben, nicht interessiert an Veränderung. Manchmal aus dem Grund, weil Menschen zu traumatisiert sind, um engagiert zu bleiben. Und manchmal sind die Leute auch am Niedergang der Organisation oder Gruppe interessiert.

Die Art und Weise, wie die Kritik geäußert wird, ist relevant. Destruktive Kritik dient nur unseren Gegnern. Ich habe Leute dabei beobachtet, die Call-outs mißbräuchlich und schädlich verwendet haben oder bei dem Versuch, Führer zu werden—nicht um positiven Wandel zu ermöglichen, sondern um andere auszubeuten. Das Schlimmste ist, wenn diese manipulative Kritik dazu führt, dass die wirklichen Inhalte, an denen die Menschen interessiert sind und in die sie auch Energie investieren, verdunkelt werden. Hinterhältige Call-outs bedeuten, dass wir die Form der Kritik als grundsätzlich mit unseren Prinzipien im Widerspruch stehend ansehen müssen und dass diese Art der Kritik nicht veränderbar ist.

Zusätzlich hat diese Call-out-Kultur die Konsequenzen für das Machen von Fehlern verschärft—egal ob beabsichtigt oder nicht. Ich denke darüber nach, wie oft ich mich entschieden habe, aus Angst vor Call-outs nichts zu sagen, weil ich mich nicht öffentlich der Bloßstellung in sozialen Medien aussetzen wollte—also beschränke ich mich auf für mich sichere Themen, bei denen ich über das entsprechende Wissen verfüge. Wir haben eine Kultur des Schweigens und der Stille geschaffen, in der sehr wenige Menschen aussprechen, was sie wirklich denken. Leute, die keine Angst davor haben verunglimpft zu werden, können fantastisch sein und auch inspirierend. Aber eine Bewegung, in der nur noch die Leute sprechen, die keine Angst haben, verunglimpft zu werden, ist ein Albtraum.

Geheimstrategien

Im gleichen Spektrum auf der anderen Seite, den Call-outs gegenüberliegend, stehen ausweichende Geheimstrategien. Im Gegensatz zum direkten Kritisieren oder Feedback-Geben gegenüber einer anderen Person, manövrieren wir drum herum. Wir streuen Gerüchte über Leute, die wir nicht mögen; wir hindern Leute daran, an Besprechungen, Treffen und Versammlungen teilzunehmen. Wir stellen sogar Listen von problematischen Leuten auf, um sie auszuschließen. Wir versuchen uns gegenseitig auszuspielen, ohne die wirklichen Themen und Konflikte anzusprechen. Hier geht es nicht darum, wie Leute aus Gründen eigener Sicherheit anderen Personen ausweichen, oder wie, nach einer Serie von fehlgeschlagenen Versuchen Konflikte anzusprechen, Leute entscheiden mit anderen umzugehen. Wie auch immer, manchmal sind wir einfach konfliktscheu und spalterisch, wir züchten eine Kultur der Verschleierung und des Misstrauens. Es gibt Zeiten, in denen Menschen, die das Vertrauen in andere verloren und schlechte Erfahrungen gemacht haben, eigentlich die politische Arbeit fortsetzen wollen, aber Probleme im Umgang mit Neulingen oder Fremden haben. Das kann bei bestimmten Projekten funktionieren, aber nicht bei massenhafter Organisierung und Aktivismus.

Unter diesen Umständen können wir unserer Visionen im benötigten Ausmaß nicht erschaffen.

Wir, ich selbst ebenso, müssen alle zusammen eine neue Strategie entwickeln. Wenn wir uns eine Welt vorstellen oder ausmalen, in der Gemeinschaften zusammenarbeiten, um Gewalt zu thematisieren und sicherzustellen, dass unsere Basisbedürfnisse erfüllt werden, dann dürfen unsere Bewegungen nicht wie Geheimgesellschaften arbeiten/organisiert sein.

Vernachlässigung

Konflikte entstehen auch daher, wenn sich Leute gegenseitig nicht beachten. Manchmal sind wir so beschäftigt, dass wir vergessen, die Bemühungen anderer für unsere Bewegungen wahrzunehmen. Wir sagen nicht „Danke“; wir erkennen die Führungseigenschaften anderer nicht an. Jahrelange Missachtung kann die Konflikte verstärken. In einigen Organisationsprozessen, an denen ich mitgearbeitet habe, sind aus dem Grad der zwischenmenschlichen Verbitterung Probleme entstanden—resultierend aus dem Gefühl, jahrelang nicht wahrgenommen worden zu sein.

Viele Leute beteiligen sich an Bewegungen, weil sie sich irgendwo zugehörig fühlen wollen. Während wir diese Lücke nicht heilen können, können wir zumindest dieses Bedürfnis wahrnehmen und akzeptieren. Und wir müssen sicherstellen, dass wir unsere Mitstreiter*innen auch jenseits dessen wertschätzen, was sie für unsere Bewegungen tun. Um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verwirklichen, die wir benötigen, brauchen wir Beziehungen mit anderen, die unabhängig von der Frage sind, ob jemand bei der nächsten Aktion dabei ist oder nicht. Und die das Interesse am Leben der anderen ausdrücken, welches wir brauchen, um die Art von revolutionären zwischenmenschlichen Beziehungen zu entwickeln, nach denen wir alle suchen.

Auch habe ich die spezielle Form der Missachtung kennengelernt, die dann eintritt, wenn Leute persönliche Bekanntheit anstreben. Soziale Medien haben eine Raum geschaffen, wo Leute ihre eigenen Plattformen und „Brands“ (Marken) erschaffen können, unabhängig vom Aufbau von Bewegungen. Ich habe führende Persönlichkeiten in Bewegungen gesehen, die so konzentriert auf ihren nächsten öffentlichen Auftritt sind, dass sie ihre Beziehungen vernachlässigen und mit ihren Genoss*innen zu konkurrieren beginnen. Der Markt für progressive Berühmtheiten ist vorhanden. Aber das Missachten oder nicht Respektieren Anderer, während des Versuches, eine charismatische Berühmtheit zu werden, bringt uns der Freiheit nicht näher.

Wie wir unsere Beziehungen wiederherstellen und Vertrauen wiedergewinnen

Um den Fokus auf die Gesundung unserer Beziehungen zu legen, müssen wir unsere Praxen verändern und unsere Werte stärker verinnerlichen. Unsere Praktiken formen unsere Kultur.

Mit einer Organisation habe ich an ihren Strategien der Ausbildung von Führungspersönlichkeiten gearbeitet. Als ich ihre Ausbildung untersuchte, wurde mir klar, dass der Schwerpunkt darin bestand, die Fähigkeiten der Teilnehmenden zur kritischen Analyse zu stärken. Um unsere Bewegungen voran zu bringen, brauchen wir Menschen, die Kapitalismus, Neoliberalismus, Patriarchat, Cis-Sexismus, Repression, Kolonialismus und so viele andere Systeme und Formen der Unterdrückung verstehen. Aber analytische Fähigkeiten zu entwickeln, ohne den Menschen die nötigen Skills zu geben für Konsensentscheidungen, den Aufbau von Gemeinschaften, die Durchführung von Treffen, um Konflikte zu moderieren und Verbindlichkeiten sicher zu stellen, schafft oft genug einen Raum, in dem jeder Austausch kritisch ist.

Um die schleichende Zerstörung in unseren Bewegungen zu thematisieren, werden wir uns gegenseitig lehren müssen, vertrauenswürdig zu sein und Vertrauenswürdigkeit auf breiterer Ebene zu entwickeln. Kürzlich haben ein lieber Mensch und ich nochmal die Werte zusammengetragen, von denen wir denken, dass sie in unserer Bewegungsarbeit am meisten gebraucht werden (und oftmals fehlen). Bei einem Kaffee erträumten wir eine Liste zentraler Werte die, wenn sie angewandt werden, radikal Schmerz, Misstrauen und Negativität ausräumen könnten, die von Menschen in Bewegungsräumen erfahren werden. Wir einigten uns auf: Ehrlichkeit, Integrität, Loyalität, Verantwortlichkeit und die Bereitschaft zur persönlichen Veränderung.

Ehrlichkeit

Wir müssen aufhören, uns und andere zu belügen. Wir haben Zusammenhänge konstruiert, in denen Menschen soviel Angst haben, falsche Dinge zu sagen oder Fehler zu machen, dass sie lieber still bleiben, lügen oder übertreiben. Vertrauen gedeiht durch Ehrlichkeit. Und Lügen können tiefe Wunden in Beziehungen verursachen.

Loyalität

Irgendwie ist Loyalität zu einem negativen Begriff geworden. Wenn ich den Begriff ‚Loyalität‘ benutze, denke ich an die Verbindlichkeit/Verpflichtung, die wir untereinander eingehen. Menschen brauchen das Gefühl, willkommen zu sein und gebraucht zu werden, selbst wenn sie Fehler machen und Schaden verursachen. Sehr viele von uns suchen nach Menschen, die auch in den schlimmsten Zeiten an unserer Seite bleiben. Unsere Beziehungen sind erschreckend an Bedingungen geknüpft: Wir sind nur dann bereit, in Verbindung mit anderen zu bleiben, wenn ihre Politik und Praxis perfekt ist. Wir sprechen über Verpflichtung oft genug nur im Zusammenhang mit romantischen Beziehungen und Hingabe zu den Visionen und Inhalten, an denen wir arbeiten. Um unsere Utopien/ Visionen umzusetzen, müssen wir uns tiefgründig, weitgehend und langfristig aufeinander einlassen.

Integrität/Glaubwürdigkeit

Wir müssen aufhören, einander vorzumachen, das es okay wäre unser Engagement unter dem Begriff ‚soziale Gerechtigkeit‘ firmieren zu lassen, wärend wir einander stattdessen schrecklich behandeln. Die Glaubwürdigkeit unserer Bewegungen wird umso stärker, je mehr wir uns verpflichten, unsere Werte auch zu leben. Und während wir daran arbeiten, die Welt wie wir sie uns erträumen, zu erreichen, müssen wir mit vielen Widersprüchen umgehen. Meine Faustregeln dabei sind: Kommen wir unserer Utopie näher? Nehmen wir uns genügend Zeit, bringen wir die nötigen Mittel ein und führen wir ehrliche Auseinandersetzungen, um als glaubwürdig gelten zu können? Zum Beispiel: Wenn ich in Räumen aktiv bin, die daran arbeiten, People of Color auf Führungspositionen vorzubereiten, dann sind meine Fragen: In welchem Ausmaß sind PoC bislang führend? Wie entlarven wir strukturelle Unterdrückung und erhöhen die Möglichkeiten für PoC in der Zukunft? Und schließlich, bleiben wir wach und fokussiert auf dieses Ziel?

Verantwortlichkeit

Ich sehe Verantwortlichkeit als ein Reparaturwerkzeug. Um wirklich diesen Wert verinnerlichen zu können, müssen wir die Fähigkeit und Bereitschaft aufbringen, verantwortlich gemacht zu werden, ebenso wie das nötige Rüstzeug, um selbstverantwortlich zu handeln. Verantwortlichkeit beginnt mit Selbstreflexion. Wir brauchen die Bereitschaft einerseits zur Selbstkritik und andererseits dazu, unsere Wirkung auf andere wahrzunehmen. Wieviele von uns sind in der Arbeit der (Beziehungs-)Heilung aktiv? Wieviele von uns sind dabei, Erfahrungen zu sammeln oder in Ausbildung im Bezug auf Konfliktlösung, Vertrauensbildung, ‚heilender Justiz/Gerechtigkeit‘ (healing justice) und ‚transformative Justiz‘ (transformative justice)? Ich bin überdrüssig von erschöpfenden Treffen mit Leuten, die sich mit Konfliktlösungen, gemeinsamer Verantwortlichkeit und ‚transformativer Justiz‘ beschäftigen. Jeder, den ich kenne, der sich im Feld von persönlicher und gesellschaftlicher Veränderung professionalisiert hat, bringt nicht die nötigen Vorraussetzungen mit. Wir dürfen Verantwortlichkeit und Heilung nicht als getrennte Fähigkeiten ansehen, die außerhalb von politischer Arbeit/gemeinschaftsbildender, gesellschaftliche Organisierung (community organizing) stehen. Wir alle innerhalb unserer Bewegungen benötigen das Bewusstsein dafür, dass Vertrauensbildung, das Heilen von Beziehungen und das Thematisieren von Unrecht ein Kernelement von Bewegungsentwicklung und -aufbau darstellt.

Bereitschaft zu persönlicher Veränderung

Ich habe all diese schädlichen Verhaltensweisen selber durchlaufen/mitgemacht und ich bin weiter dabei, das zu verändern. Ich schreibe diesen Artikel nicht aus einer leeren Kritik heraus, sondern aus einer tiefen Sehnsucht nach Veränderung. Viele der von mir benannten Verhaltensweisen sind die Folgen von Traumata, egal ob jemand nun innerhalb oder außerhalb unserer Bewegungen traumatisiert wurde. Wenn Bewegungen daran arbeiten, Menschen mit Unterdrückungserfahrungen zusammen zu bringen, arbeiten wir oft genug kollektiv mit langjährigen und tiefverwurzelten traumatischen Erfahrungen. Um unsere Beziehungen wirklich zu heilen (alternativ: unsere Verbindungen/Verhältnisse zu- und untereinander zu verbessern) , muss sich jede/r der Selbstverpflichtung stellen, an der eigenen Gesundung oder Heilung zu arbeiten; wir können nicht davon ausgehen, dass unsere Beziehungen in politischen Bewegungen die einzige Quelle für Unterstützung darstellt. Heilung von Traumata ist eine lebenslange Aufgabe. Unsere Selbstverpflichtung für persönliche Veränderung ist die Basis für unsere Fähigkeit, um in Übereinstimmung mit den Werten unserer Bewegungen aufzutreten. Ohne die Traumata zu heilen, können wir zwar Kampagnen gewinnen, aber wir werden in diesem Prozess auf der Strecke bleiben.

Ich glaube, wir alle sollten uns Listen der Bewegungswerte erstellen und abgleichen, inwieweit wir diese selbst erfüllen. Mit der Zeit können wir es erreichen, den Werten immer näher zu kommen. Was sind deine Bewegungswerte?

Richtung Heilung und Vertrauensbildung

Wenn unser Ziel ist, verbitterte Revolutionäre zu werden, die aus einer Bunkermentalität heraus kommunizieren, dann sind wir erfolgreich. Aber hast du jemals schon mit einem verbitterten Revolutionär geredet? Ich musste lachen und lernte von ihren brillianten Perspektiven, aber verliess das Gespräch deprimiert, unzufrieden und verängstigt. Auf dem verfolgten Weg, werden wir soviele Brüche erleiden, dass wir selbst dann, wenn wir in der Lage sind, die  angestrebten Veränderungen umzusetzen, wir das mit solcher Verbitterung und Misstrauen tun.

Meine Vision für 2018 ist einfach: Ich sehne mich nach Mitgefühl untereinander statt Zerstörung und Verbundenheit statt Karrierismus (Berühmtheit). In diesen Zeiten sind es unsere Beziehungen, die uns zusammen und am Leben halten. Ich bin fest davon überzeugt, dass es dieses Jahr nicht um die Größe unserer Mobilisierungen geht oder wie strategisch unsere Kampagnen angelegt sind, sondern um die Stärke unserer Beziehungen.

Ejeris Dixon

Ejeris Dixon ist eine Organizerin und Graswurzelstrategin mit 15 jähriger Arbeitserfahrung in Bewegungen zu Antirassismus, LGBTQ, Gewaltfreiheit und Sozialer Gerechtigkeit. Als Gründerin von Vision Change Win arbeitet sie aktuell mit Organisationen am Aufbau ihrer Fähigkeiten und daran, ihren Einfluss zu verstärken. Von 2010 bis 2013 leitete sie als Deputy Director das Community Organizing Department im Antigewalt Projekt der Stadt New York, wo sie auf bundesstaatlicher, landes- und lokaler Ebene die Bemühungen zu Hassverbrechen, häuslicher und sexualisierter Gewalt leitete. Von 2005 bis 2010 arbeitete Ejeris als mitbegründende Programmkoordinatorin vom Safe OUTside the System-Kollektiv beim Audre Lorde Project, wo sie communitybasierte Strategien entwickelte, um mit Hass und Polizeigewalt umzugehen. Sie ist weit anerkannt als Expertin in Sachen Polizeigewalt, Hassverbrechen, sexualisierter Gewalt und Beziehungsgewalt mit dem besonderen Schwerpunkt LGBTQ Gemeinschaften und Communities of color.

 

Übersetzung des Arbeitskreis Psychosoziale Krise Bremen

(Kommentare werden von uns wg. hohen Spamaufkommens moderiert, deshalb nicht wundern, wenn´s etwas länger bis zum Erscheinen dauert.)