Notizen aus der Pathokratie (1)

Ja, der Begriff Pathokratie ist für uns die passende Zusammenfassung dessen, was uns da draussen Tag für Tag sowohl im nächsten Umfeld als auch in den entferntesten Weltregionen aufgetischt wird. Zur genaueren Begriffsklärung wird noch ein eigener Beitrag folgen. Ansonsten werden wir zukünftig unter dieser Rubrik / Überschrift immer kurz verlinken und gegebenfalls auch kommentieren, was wir als erinnerungswürdig über den (Veröffentlichungs-) Tag hinaus ansehen.

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Zu der Serie von Anschlägen in diesem Sommer auf europäischen Boden zunächst ein Interview mit einem Mann, dessen Arbeit in Deutschland bis heute chronisch unterschätzt wird:

taz.am wochenende: Herr Theweleit, Ihr letztes Buch handelt unter anderem von ­Anders Breivik, Sie erstellen darin ein „Psychogramm der Tötungslust“. Der Amokmann von Mün­chen, so wurde ermittelt, verehrte Breivik – wofür?

Klaus Theweleit: Breivik war kein Amokmann. Der Münchener Killer auch nicht. Wer sich ein Jahr vorbereitet, läuft nicht „Amok“. Der Terminus ist zwar in Mode, bei de Maizière und anderen medialen Öffentlichkeitsbebetern, er ist aber komplett falsch für die meisten dieser Fälle. Er wird wohl benutzt, weil man auf dieser Schiene über die Täter nicht viel herausbekommt. Das ist wohl das Ziel. Die offiziellen ministerialen Lösungsvorschläge lauten ja auf „schnellere Abschiebung kleinkriminell oder anders auffällig gewordener Flüchtlinge“ – obwohl der Münchener Attentäter mit Flüchtlingen nichts zu tun hat. Mit der psychisch-körperlichen Lage von ihnen und auch der der Killer will sich niemand – so gut wie niemand – befassen.

 

Das Interview ist eine sehr komprimierte Zusammenfassung der Kernthesen des letzten Buches „Das Lachen der Täter“ von Theweleit, in dem er selbst eine Art Fortsetzung der bahnbrechenden „männerphantasien“ aus den späten 1970er Jahren sieht. Für beide gilt ( aus Sicht des Autors dieser Zeilen): die Basis in einem, wenn auch im neuesten Werk um neurobiologische Forschungen (A. Damasio) erweiterten, explizit psychoanalytischem Bezugsrahmen ist ein Faktor, der aus unserer Sicht für unnötige Verzerrungen sorgt. Ja, wir sehen wesentliche Teile der orthodoxen Psychoanalyse nach Freud als überholt, oder treffender, niemals realitätstüchtig gewesen, an. Das mindert aber nicht den grundsätzlichen Wert der Arbeit von Theweleit, die im deutschprachigen Raum noch immer einzigartig ist. Und die – wie auch im obigen Interview deutlich wird – , bis heute in der Lage ist, den eigenen Wahrnehmungsfocus entscheidend zu vergrößern und dadurch ein anderes Licht auf viele Dinge wirft.

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Unter dem Titel „Verrückte Welt“ befasste sich die jungle world Ende Juli in einem Kommentar mit den gleichen Taten und kam zu folgenden Schlüssen:

Während alle Welt versucht, den Terrorismus und andere Formen extremer Gewalt als unverständlichen Wahnsinn von einer angeblichen Normalität abzuspalten, laufen diejenigen, die für die direkte Aktion zu auto­ritär ticken, in den Wahlkabinen Amok und wählen Figuren wie Trump, Erdoğan, Le Pen, Orbán, Petry und Gauland, die objektiv nicht alle Karten im Deck haben und ganz offen die irrsinnigsten Taten ankündigen. Verrückt ist das neue Normal, was freilich nur diejenigen überrascht, die in den vergangenen Jahrzehnten kein einziges gutes Buch in die Hand genommen haben und blind und blöd durchs Leben taumeln. Der Wahnsinn kommt von einer Welt, die an ihren Widersprüchen zerbricht, weil sie wortwörtlich ums ­Verrecken nicht einsehen mag, dass die Reduktion allen Seins auf den Warencharakter und das gleichzeitige Hätscheln irrationaler Ideologien nirgendwo anders hinführen können als in einen Abgrund, dessen Tiefe die meisten noch gar nicht erahnen.

 

Mal abgesehen davon, dass „die Reduktion allen Seins auf den Warencharakter“ womöglich mehr als Symptom denn als Ursache anzusehen ist, durchaus treffende Worte.

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Und zum Schluss dieser AmokTerror-Sammlung noch ein sehr lesenswertes Statement von Götz Eisenberg, einer der wenigen hierzulande, der sich zum Thema Amok seit Jahren wirklich interessante Gedanken macht:

Wem es wirklich um Prävention zu tun ist, wird sich fragen müssen: Welche menschlichen Haltungen gedeihen eigentlich in einem gegebenen sozialen Klima, welche sterben ab? Der Neoliberalismus hat treibhausmäßig eine Atmosphäre der Konkurrenz und zwischenmenschlichen Feindseligkeit gezüchtet und die Herausbildung einer „Kultur des Hasses“ (Eric J. Hobsbawm) befördert. Die Fähigkeiten zu Mitleid, gegenseitiger Hilfe und Solidarität verdorren, weil sie durch die gesellschaftlichen Verhältnisse keine Stützung erfahren und als Karriere-Hindernisse gelten. Die Menschen werden systematisch aufeinander gehetzt und zerfleischen sich untereinander, statt sich gegen zunehmend unerträgliche Verhältnisse zusammenzuschließen und zu wehren. Aggressionen häufen sich an den Rändern des Bewusstseins, der Angst- und Wahnsinnspegel steigt, eine gereizte Stimmungslage breitet sich aus. So dürfen wir uns nicht wundern, wenn Amok und Terror die kriminelle Physiognomie des neoliberalen Zeitalters prägen.

 

Soweit für den Moment. Wie wir fürchten müssen, werden uns ähnliche Taten – nicht eindeutig in einer Schublade abzulegen – zukünftig vermehrt beschäftigen.